Die Bedeutung des Avatars
Avatare sind in der indischen Tradition göttliche Inkarnationen, die immer zu kritischen Zeiten und Wendepunkten der menschlichen Evolution auf die Erde kommen, um für die Menschheit einen nächsten notwendigen Entwicklungsschritt zu vollziehen. Nach Sri Aurobindo war Christus einer jener Avatare:
„Es gibt zwei Aspekte der göttlichen Geburt: Einer ist ein Abstieg, die Geburt Gottes in der Menschheit, das Göttliche, das sich in menschlicher Form und Natur manifestiert, der ewige Avatar. Der andere ist ein Aufstieg, die Geburt des Menschen in die Göttlichkeit, der Mensch, der in die göttliche Natur und das Bewusstsein aufsteigt.“
Der Avatar, so Sri Aurobindo, dient dazu, die menschliche Natur durch das Beispiel seiner Göttlichkeit umzuwandeln: „Der Avatar kommt als Offenbarung der göttlichen Natur in der menschlichen Natur, um durch seine Prinzipien, Gedanken und Handlungen die Transformation der Menschheit zu bewirken.“
Der historische Christus und die spirituelle Wahrheit
Sri Aurobindo betont, dass die spirituelle Wahrheit wichtiger sei als die historische Existenz Christi:
„Was spielt es letztlich für eine Rolle, ob ein Jesus, Sohn des Zimmermanns Josef, tatsächlich in Nazareth oder Bethlehem geboren wurde? Entscheidend ist, dass wir durch spirituelle Erfahrung den inneren Christus erkennen und uns durch sein Licht erheben.“
So spricht Sri Aurobindo auch über Sri Krishna: „Der Krishna, der für uns zählt, ist die ewige Inkarnation des Göttlichen, nicht der historische Lehrer.“
Christus und die Botschaft der Liebe
Sri Aurobindo hebt hervor, dass Christus eine Botschaft der Liebe und Vergebung brachte, die er durch sein eigenes Beispiel lebte. Er vergleicht Christus mit Buddha, der ebenfalls das Leiden der Menschheit sah und einen göttlicheren Lebensweg lehrte.
Die Mutter (Mira Alfassa) ergänzt:
„Als Christus auf die Erde kam, brachte er eine Botschaft der Brüderlichkeit, Liebe und des Friedens. Doch er musste am Kreuz leiden, damit seine Botschaft gehört wurde, denn die Menschen hängen an ihrem Leiden und wollen, dass ihr Gott mit ihnen leidet.“
Christus und das Problem der Religion
Sri Aurobindo beschreibt, wie die ursprüngliche Botschaft Christi durch Institutionalisierung und Dogmen verfälscht wurde:
„Die christlichen Märtyrer sterben zu Tausenden, um die Kraft der Seele gegen die Macht des Reiches zu setzen, damit Christus siegt. Doch was triumphiert, ist nicht Christus, sondern das Christentum als institutionalisierte, militante Kirche, die zu einer fanatischen Macht wird, schlimmer als das Reich, das sie ersetzte. Die Religionen selbst organisieren sich zu Kräften des gegenseitigen Kampfes und ringen heftig darum, zu überleben, zu wachsen und die Welt zu beherrschen.“
Das Vermächtnis Christi
In den Lehren der Meister gibt es immer mystische und esoterische Elemente, und Christus bildet da keine Ausnahme. Als Beispiele für die mystischen Elemente der christlichen Lehre seien die Himmelfahrt Mariens, die Sühnung der Sünde durch sein Opfer und das Kreuz selbst genannt, die allesamt starke mystische Symbole darstellen.
- Mystisches Symbol der Vollendung: „Die Himmelfahrt Mariens deutet auf die endgültige Erhebung und Rückkehr der reinen Seele (Maria) in das Göttliche hin. Sie ist ein Bild für die spirituelle Reise der Seele, die durch Läuterung und Hingabe ihren ursprünglichen Zustand der göttlichen Einheit wiedererlangt.“
- Die göttliche Transformation: „Christus, als göttlicher Avatar und Inkarnation, bringt das Licht, die Liebe und die Wahrheit des Göttlichen in die Dunkelheit der Materie. Maria, als reine Seele, nimmt diesen göttlichen Logos in sich auf und wird dadurch zur Brücke zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen.“
- Symbol für den Weg der Seele: „Maria ist das Vorbild für die menschliche Seele, die sich dem Göttlichen hingibt, den göttlichen Geist in sich trägt und schließlich zur Vollendung erhoben wird. In der Himmelfahrt Mariens wird die Möglichkeit angedeutet, dass auch die Materie und die menschliche Natur durch göttliche Gnade transformiert werden können.“
- Das Kreuz als Symbol der Einheit: „Das Kreuz symbolisiert in der Yoga-Tradition die vollkommene Einheit von Seele und Natur, doch aufgrund der Unwissenheit der Menschheit wurde es zum Symbol von Leiden und Reinigung.“
Von der Göttlichen Offenbarung zum Dogma
„Leider wurde die mystische und spirituelle Essenz von Christi Lehre durch dogmatische Religion verdrängt. Die Institutionen, die in seinem Namen errichtet wurden, waren oft im Widerspruch zu seinem Geist. Die Mutter (Mira Alfassa) hebt hervor, dass der Tod Christi für eine Menschheit, die sich nicht wandeln will, weitergeht.“
Die Verbindung von christlichen und kosmischen Symbolen
„Der 25. Dezember, als angeblicher Geburtstag Christi, wurde ursprünglich als die Rückkehr des Lichts während der Wintersonnenwende gefeiert. Auch die Geschenke der drei Magier bei der Geburt Christi haben eine tiefere Bedeutung:
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- Gold steht für die Fülle der Welt und das übergeistige Wissen,
- Weihrauch für die Reinigung des Vitalen,
- Myrrhe für die Unsterblichkeit des Körpers.“
Das Opfer der Avatare
Sri Aurobindo beschreibt in Savitri die Opfer aller göttlichen Wesen, einschließlich Christus:
„Der Sohn Gottes, geboren als Sohn des Menschen, trägt das Schicksal und die Leiden der Menschheit, um den Weg zu ihrer göttlichen Transformation zu ebnen.“
His love has paved the mortal’s road to Heaven:
He has given his life and light to balance here
The dark account of mortal ignorance.
It is finished, the dread mysterious sacrifice,
Offered by God’s martyred body for the world;
Gethsemane and Calvary are his lot,
He carries the cross on which man’s soul is nailed;
His escort is the curses of the crowd;
Insult and jeer are his right’s acknowledgment;
Two thieves slain with him mock his mighty death.
He has trod with bleeding brow the Saviour’s way.
He who has found his identity with God
Pays with the body’s death his soul’s vast light.
His knowledge immortal triumphs by his death.
Seine Liebe bahnt des sterblichen Pfad zum Himmel:
er gibt sein Leben und Licht um auszugleichen
das dunkle Konto der ird’schen Unwissenheit.
Es ist vollbracht, das grause mysterienopfer,
hier für die Welt von Gottes gequältem Leib;
Gethsemane und Golgatha sind sein Los,
er trägt das Kreuz darauf genagelt des Menschen Seele;
die Schmähungen der Menge sind sein Geleit;
sein Recht anerkennen Schimpf und Spott, es höhnen
zwei mitgeschundne Schächer den mächtgen Tod.
Er geht mit blutendem Haupt des Heilands Weg.
Wer gefuunden seine Wesenseinheit mit Gott
bezahlt mit des Leibes Tod seiner Seele Licht.
Unsterblich siegt sein Wissen durch seinen Tod.
(Sri Aurobindo, „Savitri“, Book 6)
Quellen:
Essays on the Gita CWSA 19: 148-149; Essays on the Gita CWSA 19: 15; On Thoughts and Aphorisms CWM 10: 4; Essays on the Gita CWSA 19: 44; Essays on the Gita CWSA 19: 163; Essays Divine and Human CWSA 12: 168; On Aphorisms CWM 10: 61;
Words of the Mother III, CWM 15: 198; Savitri CWSA 33-34: 444-445