Artikelserie – Grundlagen des Yoga

Teil 1: Einführung in einen ganzheitlichen Yoga

(Autor: Fabian Scharsach)

Zum Verständnis

Wenn wir in unserem allgemeinen Verständnis vom Yoga sprechen, denken wir zumeist an Körperübungen, Atemübungen oder Entspannungstechniken. Wir sehen im Yoga einen Lebensstil oder ein methodisches System mit dem Ziel, unseren Alltag angenehmer und lebenswerter zu gestalten, uns körperlich wohler und geistig entspannter zu fühlen. In unserem Sprachgebrauch werden die entsprechenden Übungen und Methoden als “Yoga” bezeichnet. Mit Blick auf seine Ziele sind die Übungen des Yoga von helfender und vorbereitender Bedeutung: sie sind wirkungsvolle Instrumente eines Weges, den man dann besser zu verstehen lernt, wenn man seine Ziele besser zu verstehen lernt.

Die tiefere Bedeutung des Yoga

In der Bhagavad Gita – einer der wichtigsten Quellen des Yoga – bekommt der Begriff des Yoga seine umfassendste Bedeutung: “Sieh meinen Göttlichen Yoga”, sagt Krishna – der Göttliche Lehrer – zu Arjuna, dem menschlichen Schüler, als er ihm die Vorgänge der Welt als Sein ewig fortschreitendes Geschehen offenbart. Aus diesem Verständnis kann man “Yoga” als einen schöpferischen Prozess der Natur beschreiben, den wir aus wissenschaftlicher Sicht als Evolution bezeichnen würden. Evolution wird in einem yogischen Verständnis jedoch nur an ihren Oberflächen als materieller oder biologischer Vorgang gesehen. In ihrer Essenz ist sie ein Phänomen des Bewusstseins: ein Vorgang der Entfaltung eines höchsten Lichts aus den Tiefen der Materie.***

Der Mensch repräsentiert die erste Spezies, die sich ihrer selbst – und auch dem Vorgang ihrer Evolution – bewusst ist, womit sie am Geschehen dieser Evolution mitwirken und es dadurch beschleunigen kann. So haben die verschiedenen Wege des Yoga die unterschiedlichsten Methoden hervorgebracht, die den Menschen in seiner körperlichen und energetischen, geistigen und emotionalen – vor allem aber in seiner seelischen Entwicklung unterstützen. Diese Perspektive ermöglicht uns, den bekannten Methoden des Yoga in einem höheren Verständnis zu begegnen: als Methoden einer beschleunigten Evolution der Menschennatur.

***Materie konnte – im Verständnis des Yoga – zu Leben erwachen, weil das Prinzip des Lebens bereits in der Materie veranlagt war. Belebte Materie konnte zu Geist und Bewusstsein erwachen, weil das Licht von Geist und Bewusstsein bereits im Prinzip des Lebens in der Materie bereits angelegt – „involviert“ war – wie die Blume im Samen.

Quellen des Yoga

In den Vedas, den frühesten Quellen des Yoga, wird diese Evolution im Sinnbild einer „Göttlichen Flamme“ beschrieben, die in den tiefen der Materie bereits angelegt – involviert – ist. Und die aus in den Formen einer noch unbewussten Materienwelt zu einem immer höheren, vollkommenerem Selbstausdruck heranwächst: Die vedischen Hymnen des alten Indien offenbaren dabei ein inneres Wissen um die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, das sich dem Suchenden nicht im Denken, sondern im meditativen Gesang, in der Öffnung des Herzens und der Stille des Geistes erschließt. Wer sich der Schönheit des Veda öffnen kann, wird vom Wunder der Schöpfung durchdrungen, das seine Hymnen in symbolischer Sprache enthüllen.

In den Yoga-Quellen späterer Zeitalter wurden die „ewigen Wahrheiten“ des Veda für den Verstand besser fassbar gemacht – sie wurden präzisiert, systematisiert, methodisch vertieft und in verständliche, anwendbare Wege der menschlichen Bewusstseinsentwicklung geformt. In diesen späteren Quellen lernt man auch Körper- und Atemübungen kennen, die der Kontrolle unserer Lebensenergien dienen, unsere nervlich-vitale Konstitution stärken und uns für höhere Wahrnehmungsebenen bereit machen. So können die Methoden des Yoga als Werkzeuge im schöpferischen Vorgang des Yoga verstanden werden: einer Höherentwicklung und Umwandlung der Menschennatur.

Ein ganzheitlicher Yoga

Wenn ein Yoga nicht nur die Befreiung des Geistes, sondern die vollständige Umwandlung unseres Menschseins in Aussicht nimmt, muss er alle wesentlichen Entwicklungsebenen dieses Menschseins einschließen: unseren Körper und seine Energien (Hatha Yoga), unseren Geist und seine Kräfte (Raja Yoga), unsere Fähigkeit zu fühlen und zu lieben (Bhakti Yoga), unser Wollen und Handeln im Alltag (Karma Yoga) und natürlich – das weite Feld der menschlichen Wahrnehmung: das tiefere Erkennen von uns selbst und der Welt (Jnana Yoga). Diese großen, klassischen Yogawege repräsentieren die bedeutenden Entwicklungsebenen der menschlichen Natur: ihre Synthese bildet die Grundlage eines „Integralen“ – eines ganzheitlichen Yoga, der den Menschen auf allen Ebenen zu seinen höchsten Möglichkeiten führen will.

In dieser über die kommenden Monate erscheinenden Serie über die geistigen Grundlagen des Yoga sollen die klassischen Yogawege und einige ihrer wichtigsten Methoden in der evolutionären Perspektive von Sri Aurobindo – einem der bedeutendsten Yogis der Neuzeit und Wegbereiter eines Integralen Yoga – verständlich gemacht werden.

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