Artikelserie – Grundlagen des Yoga

Teil 2: Hatha Yoga

(Autor: Fabian Scharsach)

„Hatha“ bezeichnet das Gleichgewicht der im Menschen wirkenden Lebensenergien. Der Hatha Yogin entwickelt zunächst den Körper und gewinnt durch bestimmte Techniken und Methoden immer vollständigere Kontrolle über diese Energien. Durch die Übungen des Hatha Yoga wird der Körper zunächst gestärkt und in einen Zustand subtiler Leichtigkeit, erhöhter Sensibilität und Empfänglichkeit geführt. Müdigkeit und Trägheit werden ebenso beseitigt, wie Unruhe und Getriebenheit. Die Wissenschaft des Hatha Yoga gründet sich auf die Erfahrung, dass sich der Zustand des Geistes durch eine Kontrolle der Lebensenergien verändern lässt.

Wie der Körper den Geist verändert

Im natürlichen Zustand ist das Denken des Menschen an die Reiz- und Reaktionsmuster – also an die sinnlich-nervlichen Mechanismen seiner Natur – gebunden. Die Befreiung des menschlichen Bewusstseins beginnt in der Logik des Hatha Yoga daher nicht im Geist, sondern an den natürlichen Grundlagen von Geist und Bewusstsein. So arbeitet der Hatha Yoga mit seinen Atem- und Körpertechniken einerseits am Körper, viel wesentlicher aber am Nervensystem, dessen Zustand für die Funktionsweise unseres Geistes bestimmend ist: in der Unruhe menschlicher Gedankenkarusselle spiegelt sich die Unruhe unseres nervlich-vitalen Gefüges. Die still gehaltenen Körperpositionen (Asanas) und die Übungen zur Kontrolle des Atems (Pranayamas) stabilisieren den Zustand des Nervensystems und schaffen damit erste Voraussetzungen, den menschlichen Geist von den Getrieben des Denkens zu befreien.

Die Kontrolle der Lebensenergien

„Ha“ bedeutet Sonne, „Tha“ bedeutet Mond. Ha steht für die aktiven, verströmenden Energien des Menschen, Tha für die passiven, aufnehmenden. Mit dieser einfachen Symbolik sind zwei grundlegende im Menschen wirksame Lebensenergien beschrieben, die auch dem Reiz- und Reaktionsgefüge unserer nervlichen Peripherie zugrunde liegen. Ihr Zustand entscheidet darüber, wie wir wahrnehmen und auf unsere Wahrnehmungen reagieren. So sind diese beiden Energien nicht nur für die Koordination aller Lebensprozesse von Bedeutung, sie bilden auch die Grundlagen unseres Bewusstseins. Die Quellen des Yoga sprechen insgesamt von fünf Hauptströmungen*** von Lebensenergie, deren harmonisches Zusammenwirken die Grundlage für die höheren Verwirklichungen dieses Yoga bildet.

***Zur Erläuterung: „Prana“ ist die Kraft des Energie Aufnehmens, „Apana“ ist die Kraft des Energie Abgebens, „Samana“ der Strom der Energieumwandlung, damit die aufgenommenen Energien vom Organismus assimiliert werden können „Vyana“ die Kraft der Energieverteilung im Organismus. 5. „Udana“ ist jener Energiestrom, der die menschliche Vitalität mit den höheren Regionen des Geistes verbindet: Udana ist eine evolutionäre und motivatorische Energie, die allen aufstrebenden Bewegungen der Menschennatur zugrunde liegt und sich in Zuversicht, Freude am Fortschritt, Hoffnung oder Begeisterungsfähigkeit ausdrückt.

Zur Befreiung des Geistes

Hatha Yoga soll dem Menschen die Basis eines gesunden, ruhigen und geschmeidigen Körpers geben, der in einem bewussten Gleichgewicht der in ihm wirkenden Kräfte ruht – durch den die Lebensenergien, die „Pranas“, kraftvoll und gleichmäßig hindurchfließen können. Eine höhere Intensität und Harmonie der Lebensenergien bildet die Grundlage einer Befreiung des Bewusstseins und seiner im Menschen angelegten Potentiale. In diesem Sinne erklärt Yogi Swatmarama, der Verfasser der „Hatha Pradipika“ (Anm. Quellschrift des Hatha Yoga), daß er die von ihm beschriebenen Körper- und Atemtechniken ausschließlich „zur Erlangung von Raja Yoga“ weitergibt. So will der Hatha Yoga durch die Disziplin des Körpers zu den höheren Verwirklichungsstufen des „Raja Yoga“ – dem Yogaweg des Geistes – führen, von dem im nächsten Teil dieser Serie die Rede sein wird.

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