Artikelserie – Grundlagen des Yoga

Teil 3: Raja Yoga

(Autor: Fabian Scharsach)

Raja Yoga ist der „Yoga des Königs“, der – als Herrscher über die Menschennatur – eigentlich unser Geist sein sollte. In seinem gewöhnlichen Zustand ist unser Geist allerdings ein schwacher und machtloser König, der in jedem Moment den Manipulationen seiner Untertanen ausgeliefert ist. Diese Untertanen sind die Kräfte der menschlichen Triebnatur, die den Geist durch ihre Konditionierungen an ihr eigenes Wirken gebunden halten.

Die Strukturen des Geistes

Die frühesten Konditionierungen unseres Bewusstseins gründen sich auf ein natürliches Reiz- und Reaktionsgefüge, das von den Kräften der Natur für die Ziele des Lebens in der Natur herangebildet worden ist und das auf den Prinzipien von Anziehung und Abstoßung beruht.

Diese Grundimpulse beeinflussen in jedem Moment unser Denken und Fühlen, Wollen und Handeln: unsere im Egonatur fühlt sich angezogen von allem, was ihrem Leben und Überleben förderlich ist, was Freude und Erfüllung, Entwicklung und Ausweitung ihrer Möglichkeiten bringt. Und sie meidet, was Gefahr und Begrenzung, Leiden und Widerstand bedeutet. So bleibt unser Denken – ohne dass uns diese bewusst wäre – in jedem Moment von den einfachsten Mustern und Prägungen der Natur beeinflusst. Sein wahres Königtum höherer Bewusstheit kann unser Geist erst dann verwirklichen, wenn er sein Wirken von den Einflüssen dieser Natur befreit und seine verborgenen Mächte und Möglichkeiten zur Entfaltung bringen kann. Dazu bietet der klassische Raja Yoga einen achtfachen Weg der Befreiung…beginnend bei den für unseren Lebensalltag.

Die Vorbereitung des Geistes

Eine erste Vorbereitung schafft der Raja Yoga mit den „Yamas und Niyamas“ (Geboten und Verboten): Sie sollen den Geist von den Impulsen der Egonatur befreien und eine Atmosphäre im Menschen erschaffen, die dem spirituellen Übungsweg hilfreich ist. Reinheit und Wahrhaftigkeit, Begehrenslosigkeit und Zufriedenheit, Enthaltsamkeit und das Nicht-Verletzen sind einige dieser Hinweise zur Zivilisierung der menschlichen Natur. Wenn diese ersten geistigen Voraussetzungen für den Yoga geschaffen sind, kann der Praktizierende damit beginnen, den Zustand des Körpers und seiner Energien zu stabilisieren.

Der Rückzug der Sinne

Asana – die Stille des Körpers in der meditativen Sitzposition – und Pranayama – die Kontrolle des Atems – sollen Ruhe und Harmonie im sinnlich-nervlichen Gefüge herstellen und dem Menschen einen wachsenden Einfluss auf die Energien seiner Natur ermöglichen. Durch verinnerlichende Yogaübungen, Schweigen oder Fasten entsteht ein natürlicher Rückzug von den sinnlichen Reizen der Außenwelt, was den Geist zur Ruhe kommen lässt. Die nervliche und geistige Konstitution werden stabilisiert, um die Praktizierenden auf die Erfahrung höherer Wahrnehmungen vorzubereiten.

Die Oberflächen des Denkens

In der Erfahrung des Raja Yoga ist unser denkender Verstand, selbst der höchst entwickelte Intellekt, kein Instrument der Erkenntnis. Für unsere rational geprägte Moderne mag eine solche Aussage nicht leicht zu akzeptieren sein. Im Verständnis des Raja-Yoga ist unser Denken nicht mehr als die form- und strukturgebende Oberfläche eines tiefer in uns verborgenen Bewusstseins, mit dessen Mächten und Einflüssen wir durch Yogapraxis in Beziehung treten. Ein Verständnis der Ziele des Raja Yoga könnte mit dem Platonischen Höhlengleichnis beginnen: die denkende Erkenntnis des Menschen gründet sich auf eine fragmentierte, auf getrennten Formen basierende Oberflächenwahrnehmung der Wirklichkeit. Wir sehen nur Schatten von dem, was sich im Wesen der Dinge verborgen hält und was wir erst dann tiefer erkennen können, wenn unsere Wahrnehmung die Höhle sinnlicher Täuschungen verlässt und in einem höheren Licht des Bewusstseins aufgeht.

Stufen höherer Bewusstheit

Wie der natürlichen Morgenröte eine tiefe Stille der Natur vorausgeht, geht der Morgenröte eines höheren Bewusstseins eine tiefe Stille und Konzentration des Geistes voraus. Die Konzentration des Raja Yoga („Dharana“) löst den Geist von den Oberflächen des Denkens und lenkt die geistigen Energien auf ein Objekt, das die Idee eines höheren Bewusstseins verkörpert: ein heiliges oder universelles Symbol etwa. In einem weiteren Schritt beginnt sich die Konzentration zu vertiefen. Ein stiller, auf einen Punkt gerichteter Geist durchdringt die Schleier einer materiellen Oberflächenwelt, überwindet den Zustand der Trennung und erfährt die Einheit mit den Objekten seiner Wahrnehmung: die Auflösung der mentalen Oberflächenmatrix, das Aufgehen des Geistes im Licht einer Göttlichen Allgegenwart „Samadhi“…

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