Artikelserie – Grundlagen des Yoga
Teil 8: Das Ego und die Evolution des Bewusstseins
(Autor: Fabian Scharsach)
Die Illusion des Ego
Die spirituelle Praxis des Yoga ist der Überwindung der menschlichen Egonatur gewidmet. In der Yoga-Psychologie wird dieser Aspekt als „Ahamkara“ – der „Ichmacher“ – bezeichnet: ein Mechanismus in unserem Geist, der uns die Welt durch getrennte Formen und Erscheinungen vermittelt. Dieses egohafte, trennende Bewusstsein wird oft mit Egoismus gleichgesetzt. Die Yoga-Psychologie spricht jedoch nicht nur von der Überwindung eines übersteigerten Egoismus durch ein Zivilisieren oder Reduzieren des Egobewusstseins – sie spricht vielmehr von der Egonatur als einer Illusion – und von der Überwindung dieser Illusion.
Wie wir uns selbst wahrnehmen
Im Verständnis des Yoga wurzelt das Ego in der Wahrnehmung eines materiellen, auf äußeren Formen aufgebauten Bewusstseins – eines „Ich“, das sich auf allen Ebenen als getrennt wahrnimmt: ein Körper, getrennt von anderen Körpern, eine Lebenskraft, getrennt von anderen Lebenskräften, ein Geist, getrennt von anderen Geisten. Unser gesamtes Oberflächenbewusstsein – unser veräußerlichtes Denken, Fühlen, Wollen und Handeln – basiert auf der Wahrnehmung einer für sich selbst bestehenden Persönlichkeit.
So halten wir unsere Körper für etwas getrennt Bestehendes, zu unserem Ich gehörendes, Festes, Beständiges. Auf dieselbe Weise sind wir mit den Energien unserer Natur identifiziert, die in jedem Moment in uns wirken: Wir fühlen ein Begehren in uns und halten die Energie, die uns zu seiner Erfüllung antreibt, für unsere eigene. Und natürlich halten wir auch unsere Gedanken, Ideen und Visionen für selbst erschaffen. Unsere gesamte menschliche Oberfläche denkt, will, atmet, lebt und fühlt in der Wahrnehmung eines getrennten, für sich selbst bestehenden Ich. Diese Täuschung unserer Oberflächenwahrnehmung suggeriert uns eine Welt vereinzelter Formen. Sie bildet die Grundlage des menschlichen Ego – eines trennenden, auf sich selbst bezogenen Bewusstseins.
Ein evolutionärer Übergang – vom mentalen zum spirituellen Bewusstsein
Dass die Überwindung der Egonatur ein weiterer Schritt in der menschlichen Evolution ist, geht auf Sri Aurobindo zurück, den Begründer des Integralen Yoga. In seiner Perspektive ist der Mensch ein Übergangswesen, in dem sich eine Wende der natürlichen Evolution vollzieht: ein Übergang von einer mentalen zu einer spirituellen Menschenart. Ein notwendiger Schritt dieser Höherentwicklung unserer Spezies liegt in der Transformation der Egonatur.
“…Man the individual has to affirm, to distinguish his personality against Nature, to be powerfully himself, to evolve all his human capacities… He has to affirm himself in the ignorance before he can perfect himself in the knowledge…”
(Sri Aurobindo, The Life Divine)
In einer Welt der Unbewusstheit, so Sri Aurobindo, muss das natürliche Ego seine Individualität erst erkämpfen – es muss sich bestärken, vergrößern, festigen. Das Ego erscheint als notwendige Begrenzung unserer Natur, um das Bestehen vereinzelter Lebensformen zu sichern und gleichzeitig eine größtmögliche Vielfalt an Wesen herauszubilden. Erst mit wachsender Stärke – und wachsendem Bewusstsein – kann es seine schützenden Begrenzungen lösen und sich in einem höheren Bewusstsein auflösen. Das Ego war die Form, die die Natur benutzte, um eine vorläufige – wenn auch unvollkommene – Individualität zu erschaffen. Mit der weiteren Entwicklung des Bewusstseins können diese alten Begrenzungen überwunden werden – und der Mensch kann in eine freiere, umfassendere Seinsweise eintreten. Wie das Ego das Mittel zur Schaffung einer natürlichen Individualität war, so wird es zum Hindernis für die Verwirklichung einer höheren, spirituellen Individualität.
Sinn und Entwicklung der Egonatur
So brauchen wir das Ego nicht als eine Sinnlosigkeit zu betrachten. Wir können darin eine notwendige Stufe unseres evolutionären Aufstiegs erkennen – und bewusst daran teilhaben. Denn im Menschen vollzieht sich ein Übergang zu einer höher bewussten Menschenart; und dieser Übergang bedeutet nicht die Auslöschung unserer Individualität, sondern ihre Ausweitung und Vervollkommnung.
Wer heute nach einem tieferen Sinn seines Menschseins sucht, kann ihn in der bewussten Mitwirkung an diesem Wandel finden.
„Yoga muss der Menschheit enthüllt werden, weil sie ohne ihn den nächsten Schritt ihrer Evolution nicht machen kann“
(Sri Aurobindo)
Yoga bedeutet ein bewusstes, methodisches Mitwirken an der Höherentwicklung unseres Menschseins. Die Methoden des Yoga zeigen dem Menschen Wege auf, das Dunkel seiner Egonatur zu überwinden und für die Kräfte eines höheren Bewusstseins empfänglich zu werden – in sich selbst ein Menschsein zu erschaffen, das im Licht wachsender Liebe, Schönheit und Daseinsfreude einen immer vollkommeneren Ausdruck findet.
Eine neue Spezies
Das weitere Ziel der irdischen Evolution – so unausweichlich wie tiefgreifend – wird die Entstehung eines göttlichen Wesens auf der Erde sein, das sich in den höher entwickelten Teilen der Menschheit zu formen beginnt. Sri Aurobindo spricht von einer „neuen Spezies“, die die Kräfte und Möglichkeiten eines höchsten Bewusstseins nicht nur im Geist, sondern auch in ihrer körperlich-vitalen Manifestation zum Ausdruck bringt.
Es wird eine neue Wesensart entstehen, die die Mächte des Himmels auf der Erde verankern wird; die das Dunkel der Vergangenheit überwunden, die Siegel von Unwissenheit und Tod gelöst haben wird – und mit der ein neues Kapitel dieser irdischen Evolution beginnen wird.
Die „übergeistige“ Spezies, von der Sri Aurobindo spricht, wird sich in ihrer irdischen Manifestation nicht mehr auf die Prozesse unserer gegenwärtigen Natur stützen. Und sie wird sich, wie Sri Aurobindo sagte, vom Menschen grundlegender unterscheiden, als sich der Mensch vom Tier unterscheidet…
„Der Mensch ist ein Wesen des Übergangs. Er ist nicht das Endziel. Der Schritt vom Menschen zum Übermenschen ist die nächste bevorstehende Errungenschaft in der Evolution der Erde.
Sie ist unvermeidlich – denn sie ist zugleich der Wille des inneren Geistes und die Folgerichtigkeit im Vorgang der Natur.“
(Sri Aurobindo)
„Eine neue Spezies entsteht auf diesem Planeten. Sie entsteht jetzt – und du bist es.“
(Eckhart Tolle, „Eine neue Erde“)