Inspiration

Das Wesen dieses Yoga

Es ist gesagt worden, man müsse, um im Joga voranzukommen, dem Göttlichen alles darbringen, bis zur kleinsten Kleinigkeit, die man im Leben hat oder tut. Was bedeutet das genau?

Joga heisst Einung mit dem Göttlichen, und die Einung geschieht durch Darbringung; sie gründet sich auf die Darbrigung eures Wesens an das Göttliche. Zu Beginn bringt ihr dieses Opfer in allgemeiner Weise, gleichsam ein für allemal; ihr sagt: „Ich bin ein Diener des Göttlichen; mein Leben ist ganz dem Göttlichen gegeben; all meine Bemühungen zielen auf die Verwirklichung des Göttlichen Lebens.“ Das ist aber nur der erste Schritt, denn er genügt nicht. Wenn eure Entscheidung feststeht, wenn ihr beschlossen habt, dass euer gesamtes Leben dem Göttlichen geweiht sein soll, dann bleibt noch, euch in jedem Augenblick daran zu erinnern und es in allen Einzelheiten eures Daseins auszuführen. Bei jedem Schritt müsst ihr spüren, dass ihr dem Göttlichen gehört; es muss euch zur ständigen Erfahrung werden, dass in allem was ihr denkt und tut, das göttliche Bewusstsein in euch wirkt. Künftig habt ihr nichts mehr, was ihr euer eigen nennen könnt; ihr fühlt, dass alle Dinge vom Göttlichen kommen und dass ihr sie ihrem Ursprung zurückgeben müsst. Seid ihr imstande, das zu verstehen und zu erfahren, dann hört auch eine Geringfügigkeit, um die ihr euch vorher kaum gekümmert habt, auf, nebensächlich und belanglos zu sein; sie wird voller Sinn und eröffnet euch einen weiten Horizont der Beobachtung und Selbsterforschung.
Folgendermaßen müsst ihr es anfangen, um eure allgemeine Hingabe umzusetzen in eine, die sich in allen Einzelheiten bewährt. Lebt dauernd in der Gegenwart des Göttlichen; lebt in dem Gefühl, dass es diese Gegenwart ist, die euch bewegt und in euch alles tut. Bringt alle eure Regungen ihr dar, nicht nur alle geistigen Tätigkeiten, jeden Gedanken, jede Empfindung, sondern auch die äußerlichsten, wie zum Beispiel Essen; wenn ihr esst, müsst ihr fühlen, dass das Göttliche in euch isst. Wenn ihr so alle Regungen in das eine Leben zu sammeln vermögt, dann nimmt in euch Einheit den Platz der Trennung ein. Ihr habt den Zustand hinter euch, in dem ein Teil eurer Natur dem Göttlichen gegeben ist, während der Rest am Gewohnten festhält und sich weiter mit dem Gewöhnlichen abgibt; euer gesamtes Leben hat eine einzige Richtung eingeschlagen; eine vollständige Umwandlung vollzieht sich allmählich in euch.

Im ganzheitlichen Joga muss das ganze Leben bis in die kleinste Einzelheit verwandelt, vergöttlicht werden. Bei diesem Unternehmen gibt es nichts, was unbedeutend oder gleichgültig wäre. Ihr könnt nicht sagen: „Wenn ich meditiere, wenn ich Philosophisches lese oder diesem Gespräch lausche , befinde ich mich in einem Zustand der Sehnsucht nach dem Licht und der Empfänglichkeit dafür; doch wenn ich herauskomme, um spazieren zu gehen oder Freunde zu besuchen, dann darf ich alles vergessen.“ Wenn ihr diese Einstellung beibehaltet, werdet ihr euch nie umwandeln und nie die wirkliche Einung haben: ihr werdet immer geteilt bleiben und bestenfalls einen Abglanz des höheren Lebens erhaschen. Ihr könnt vielleicht während eurer Meditation gewisse Erfahrungen, gewisse Verwirklichungen im Inneren Bewusstsein erlangen, aber euer Leib und euer Leben bleiben unverändert. Eine innere Erleuchtung, die den Leib und das äußere Leben nicht berücksichtigt, ist von keinem großen Nutzen, denn sie lässt die Welt so, wie sie ist.  Das ist bisher immer wieder geschehen. Sogar jene, die eine große und machtvolle Verwirklichung hatten, zogen sich aus der Welt zurück, um ungestört in innerer Ruhe und innerem Frieden zu leben; die Welt blieb sich selbst überlassen, und unangefochten behielten Elend, Dummheit, Tod und Unwissenheit ihre Herrschaft über die stoffliche Daseinsebene. Für die, die sich derart zurückziehen, mag es sehr angenehm sein, dem Sturm zu entrinnen, der Schwierigkeit den Rücken zu kehren und anderswo für sich selbst einen Zustand der Glückseligkeit zu finden. Das Leben und die Welt aber lassen sie unverändert, und ihr Leib ist unverbesserlicher denn je. Wenn sie in die Welt zurückkommen, sind sie da im allgemeinen noch schlimmer dran als gewöhnliche Leute, denn sie haben die Herrschaft über stoffliche Dinge verloren, und ihre Handlungsweise im Leben läuft Gefahr, verworren und machtlos der Willkür jeder beliebigen Kraft ausgeliefert zu sein.

Ein solches Ideal mag gut sein für solche, die es wünschen, aber unser Joga ist das nicht Denn wir wollen die göttliche Eroberung dieser Welt und all ihrer Regungen, die Verwirklichung des Göttlichen hier auf der Erde. Wollen wir aber, dass das Göttliche hier herrscht, so müssen wir ihm alles geben, was wir haben, alles, was wir sind, alles, was wir tun. Es ist nicht damit getan, gewisse Dinge für belanglos zu halten und zu meinen, das äußere Leben mit seinen Notwendigkeiten habe nicht teil am Göttlichen Leben. Wenn wir so dächten, würden wir uns nicht bewegen, alles bliebe immer beim alten, es gäbe keine Eroberung der stofflichen Welt, und nichts Dauerhaftes könnte getan werden.

(Aus: Die Mutter, „Lehrgespräche und Worte der Liebe 1929-38“)