Shirshasana – der Kopfstand
(Autor: Fabian Scharsach)
Der Kopfstand wird von vielen Menschen wie ein Symbol für die Übungspraxis des Yoga wahrgenommen. Vielleicht zurecht, denn es gibt wenige Übungen im Hatha Yoga, denen so viele gute, umfassende Eigenschaften zugeschrieben werden. Durch den starken Druck auf den Scheitel fördert er die Konzentration auf den „Brahmarandra – den höchsten Punkt des Kopfes. Durch Konzentration auf diesen Punkt öffnet sich die Wahrnehmung des „tausendblättrigen Lotus“.
Die Öffnung des höchsten Zentrums
Der „tausendblättrige Lotus“ befindet sich oberhalb des Scheitels und bildet (neben dem Herzchakra) das zweite wichtige Zentrum der Konzentration (und Meditation). Durch ihn ermöglicht sich die Herabkunft der Mächte eines höchsten Bewusstseins in die Menschennatur. Der Kopfstand wird geübt, um den Bereich des Scheitels zu energetisieren und das Chakra auf eine Öffnung vorzubereiten.
Sinnbild der Konzentration
In seiner inneren Essenz beschreibt der Kopfstand den Zustand von Stille und Konzentration des Geistes. Die intensive Sammlung in den geistigen Zentren und die Geradlinigkeit in der Ausführung lassen ihn wie ein Symbol vollkommener Ausrichtung und Einpünktigkeit erscheinen.
Die Wirkungen des Kopfstands
In der Folge haben wir einige Anmerkungen und Aspekte zur Übungspraxis des Kopfstandes aus Quellschriften zusammengetragen:
Auf körperlicher Ebene ist der Kopfstand eine herausfordernde Umkehrhaltung, die die Schultern, Arme und den Rumpf stärkt. In dieser Position wird das Körpergewicht auf den Kopf und die Schultern verlagert, was die Durchblutung im Kopfbereich verbessert. Shirshasana fördert die Flexibilität in der Wirbelsäule und hilft, Verspannungen im Nacken und in den Schultern zu lösen, während sie gleichzeitig Gleichgewicht und Koordination trainiert.
Energetische Ebene: Im Kopfstand wird Prana – Lebensenergie – in den Körper geleitet, was zu Vitalisierung und Erneuerung führt. Obwohl der Kopfstand als eine meditative Asana gilt, wirkt er auf der Ebene der ayurvedischen Konstitutionen „Pitta“ (Feuer) erhöhend, also energetisierend. Durch die Stimulation von Sahasrara Chakra, das als Eintrittstor höherer Ebenen von Bewusstsein gilt, kann das Gefühl einer geistigen Weite und Allverbundenheit gestärkt werden.
Geistige Ebene: Durch die Schwerkraft wird der Blutfluss in den Kopfbereich gesteigert. Diese erhöhte Blutzirkulation versorgt das Gehirn mit mehr Sauerstoff und Nährstoffen, was die neuronale Aktivität anregt. Eine verbesserte Sauerstoffversorgung ist entscheidend für die Funktion der Nervenzellen und fördert die geistige Klarheit. Verschiedenste wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Asanas, die den Blutfluss zum Gehirn erhöhen, ganz allgemein mit einer verbesserten Gedächtnisleistung und Konzentration in Verbindung stehen.
Seine Tiefenwirkungen entfaltet der Kopfstand bei längerer Haltedauer. Die dauerhafte Balance zwischen einem aktiven und entspannenden Zustand kann dabei helfen, Stress abzubauen und emotionale Blockaden zu lösen. In seinen unmittelbaren Wirkungen erleichtert er den Zustand der Klarheit, Konzentration und geistigen Stille. So wird die Praxis des Kopfstands oft als eine Form der aktiven Meditation beschrieben.
Der Kopfstand im tantrischen Verständnis
„Der Kopfstand symbolisiert die Umkehrung dieses natürlichen Energieflusses. Durch die Umkehrung des Körpers wird Apāna nach oben und Prāṇa nach unten gelenkt. Dies hilft, den Energiefluss zu harmonisieren und bringt sie zu Shushumna Nadi, dem zentralen Kanal, wodurch das Erwachen der Kundalini erleichtert wird.“
Quelle: Swami Satyananda Saraswati, Asana, Pranayama, Mudra, Bandha, Bihar School of Yoga (1996)
Im tantrischen Denken wird der Kopf als Sitz des Sahasrara-Chakras angesehen, das mit der höchsten Bewusstseinsebene verbunden ist. Der Kopfstand stimuliert diesen Bereich und hilft, die subtilen Energien dorthin zu lenken. Sahasrara steht für die Vereinigung individueller und kosmischer Bewusstseinskräfte, was als Ziel vieler tantrischer Praktiken betrachtet wird.“
Quelle: Georg Feuerstein, Tantra: The Path of Ecstasy, Shambhala (1998).
„Der Kopfstand steht somit für die Idee, dass wahre spirituelle Erfahrung darin besteht, jenseits der dualistischen Trennung zu gehen, was die Essenz vieler tantrischer Praktiken ist.“
Quelle: Andre van Lysebeth, Tantra: Der Weg der Ekstase, O.W. Barth Verlag (2004).
„In tantrischen Texten wird die Umkehrung des Körpers auch als Metapher für die Umkehrung des gewöhnlichen Geisteszustands verstanden. Durch die Kontrolle des physischen Körpers im Kopfstand wird auch der Geist gezwungen, ruhig und stabil zu werden. Dies bereitet den Yogi darauf vor, tiefere Bewusstseinszustände zu erreichen.“
Quelle: Swami Sivananda, Kundalini Yoga, The Divine Life Society (1997).
„Durch die Umkehrung wird nicht nur der physische Körper, sondern auch die subtile energetische Struktur beeinflusst, was als Prozess der Verjüngung und geistigen Reinigung gesehen wird.“
Quelle: Harish Johari, Kundalini: Die Erweckung der kosmischen Energie, Kailash Verlag (1997).
Schritt-für-Schritt-Anleitung für den Kopfstand
1. Vorbereitung: Dehnen und Aufwärmen
- Wärme deinen Körper auf, um die Muskeln vorzubereiten. Ideal sind Übungen wie der herabschauende Hund (Adho Mukha Svanasana) oder der Delfin (Ardha Pincha Mayurasana).
- Konzentriere dich dabei auf die Kräftigung der Schulter-, Nacken- und Rückenmuskulatur.
2. Ausgangsposition – Vierfüßlerstand
- Komme in den Vierfüßlerstand (Hände unter den Schultern, Knie unter den Hüften).
- Achte darauf, dass dein Rücken gerade ist und die Bauchmuskulatur leicht angespannt bleibt.
3. Position der Arme – Hände und Ellbogen richtig platzieren
- Verschränke die Hände vor dir auf der Matte, sodass ein Dreieck entsteht. Die Hände sollten leicht geöffnet bleiben, um den Hinterkopf später darin zu stützen.
- Lege die Ellbogen schulterbreit auf die Matte. Ein häufiger Fehler ist es, die Ellbogen zu weit auseinander zu platzieren. Beim Einnehmen des Kopfstands können sich die Kräfte leichter mobilisieren, je kleiner der Abstand der Ellbogen zueinander ist. Ein Hinweis: Miss den Abstand ungefähr mit einer Unterarmbreite zwischen deinen Ellbogen.
4. Positionierung des Kopfes
- Lege den Scheitel deines Kopfes vorsichtig auf den Boden (am besten auf eine gefaltete Decke)
- Der Hinterkopf wird leicht von den Händen gestützt. Wichtig: Das Gewicht sollte nicht nur auf dem Kopf lasten, sondern auch von den Armen und Schultern getragen werden.
5. Heben der Hüfte – Vorbereitung auf den Aufstieg
- Strecke deine Beine, indem du die Knie vom Boden abhebst, sodass du in eine Art Delfinposition kommst.
- Dein Körper sollte nun eine umgekehrte „V“-Form einnehmen. Halte die Schultern stabil und aktiv, um den Nacken zu entlasten.
6. Näherkommen mit den Füßen – Wander nach vorn
- Wandere langsam mit deinen Füßen nach vorne in Richtung Kopf, während du die Hüften immer höher bringst.
- Bringe deine Hüften in eine gerade Linie über deine Schultern, bevor du den nächsten Schritt machst.
7. Die Knie an die Brust ziehen – Balance finden
- Ziehe ein Knie nach dem anderen sanft in Richtung Brust, während du das Gleichgewicht hältst. Nutze deine Bauchmuskulatur, um die Kontrolle zu behalten. Das zweite Knie folgt.
- Finde hier Ruhe und Stabilität, bevor du weitergehst. Achte darauf, die Kraft hauptsächlich aus den Schultern und dem Oberkörper zu ziehen.
8. Beine nach oben strecken – In den Kopfstand aufsteigen
- Sobald du sicher das Gleichgewicht gefunden hast, beginne, deine Beine langsam nach oben zu strecken.Du kannst einige Zeit in einem Kopfstend mit angewinkelten Beinen bleiben, um dich an die Position zu gewöhnen und diese einfach wieder verlassen zu können.
- Strecke die Beine dann vollständig aus und bringe deinen Körper in eine gerade Linie. Achte darauf, dass du die Schultern stabil hältst und dein Gewicht gleichmäßig verteilst. Achte darauf, dass der Kopf präzise am Scheitel ruht. AnfängerInnen haben die Neigung, den Kopf nicht am Scheitel, sondern (sicherheitshalber) zwischen Stirn und Scheitel aufzusetzen, um nicht hintenüber zu fallen. Das führt dazu, dass die Position nicht zentriert gehalten werden kann und die Muskulatur sehr viel arbeiten muss, um die Aurichtung des Körpers zu erhalten. Diese Fehlhaltung erschwert eine längere Haltedauer und kann sich langfristig auch ungünstig auf den Nacken auswirken.
9. Halten und Atmen
- Halte den Kopfstand für einige Atemzüge. Atme ruhig und tief ein und aus, um die Balance zu halten.
- Die Kraft sollte auch in den Oberarmen, Schultern und Rückenmuskeln liegen.
10. Zurückkommen – Langsam absteigen
- Wenn du bereit bist, den Kopfstand aufzulösen, beuge langsam die Knie zur Brust.
- Bringe die Füße kontrolliert zurück auf den Boden, indem du den gleichen Weg zurückgehst. Achte dabei darauf, dass du die Schultern aktiv hältst und die Kontrolle über den Abstieg bewahrst.
- Setze dich langsam in die Kindeshaltung (Balasana), um den Nacken zu entspannen.
11. Bei fortgeschrittener Übungspraxis:
- Verlassen des Kopfstandes mit fließendem Überang in „Urdhva Hastasana“ in Zehenspitzenstand und bei tiefen Atemzügen.
Sicherheitshinweise:
- Beginne mit der Wand: Falls du dich unsicher fühlst, übe den Kopfstand mit dem Rücken zur Wand (ca. 30 bis 40cm Abstand). So kannst du die Wand nutzen, um das Gleichgewicht zu halten, während du dich an die Umkehrung gewöhnst.
- Kontrolliere deinen Atem: Gleichmäßiges Atmen hilft dir, entspannt zu bleiben und die Balance zu finden.
- Kopfstand meiden bei Nackenverletzungen oder hohem Blutdruck
- Kopfstand meiden bei Problemen mit dem Augendruck
Hinweise für Anfänger:
- Geduldig sein: Es kann einige Zeit dauern, bis du die Balance im Kopfstand findest. Arbeite schrittweise an deiner Kraft und Flexibilität.
- Übe regelmäßig: Eine tägliche Praxis, auch nur für kurze Zeit, hilft dir, das nötige Körpergefühl zu entwickeln.
- Purzelbäume“ sind eine gute psychologische Vorbereitung für den Kopfstand, weil sie die Angst vor dem Hintenüber-Fallen nehmen.
Durch konsequente Übung wirst du nicht nur deine körperliche Stärke und Balance verbessern, sondern auch die inneren Aspekte des Kopfstands – wie Ruhe und Konzentration – erfahren.