Artikelserie – Grundlagen des Yoga

Teil 6: Was ist Prana?

(Autor: Fabian Scharsach)

Das Wunder der Natur

Wenn wir die Natur still und aufmerksam betrachten, die Vielfalt ihrer Formen, die Schönheit und Charakteristik ihres Ausdrucks oder die Makellosigkeit ihrer inneren und äußeren Organisation, vermuten manche von uns eine geheime, in allem gegenwärtige schöpferische Intelligenz. Aber wie kann diese Intelligenz in der Materie wirksam sein? Wie kann sie komplexe Strukturen erschaffen und dynamische Prozesse bewirken, auf deren Grundlage sich lebendige Organismen und schließlich fühlende, denkende Wesen herausbilden? In welcher Weise sind also Geist und Materie miteinander verbunden?

Was Geist und Materie verbindet

Die Erfahrungen spiritueller Kulturen aller Zeitalter sprachen sehr einhellig von einer allerschaffenden, zwischen Geist und Materie vermittelnden Energie, die In den unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich benannt wurde: Chi, Od, Mana … die indische Kultur nannte sie „Prana“. Dabei könnten wir auch von „Pranas“ sprechen, weil diese Energie sich in unterschiedlichen Qualitäten manifestiert. Wenn wir aber verstehen wollen, was die yogische Wissenschaft mit diesem Begriff wirklich meint, brauchen wir ein umfassenderes Verständnis vom Ursprung dessen, was wir äußerlich als Energie wahrnehmen.

Die subtilen Prozesse hinter dem biologischen Leben

In unserem gewöhnlichen Verständnis sind Energien mechanische Wirkungskräfte der Natur. Wie aber passt die Vorstellung einer unbewussten Naturmechanik zu unserer Erkenntnis der Natur als einem Ordnungsgefüge, das in der Abstimmung seiner Kräfte und Mechanismen eine so vollkommenen Harmonie hervorbringt, dass es durch Evolution seiner biologischen Prozesse die Vielfalt des Lebens – und schließlich die Entstehung von Bewusstsein ermöglicht? Die Organisation und Lernfähigkeit des biologischen Lebens, die Entwicklung seiner Wahrnehmungs- und Reaktionsgefüge sind aus Sicht yogischer Erfahrungen kein Zufallsgeschehen, sondern evolutionäre Dynamik eines sich entfaltenden Bewusstseins.

Trägerkräfte der Evolution

Pranas sind die essentiellen Energien dieses Bewusstseins. Wenn wir Evolution als die fortschreitende Organisation, Vielfalt und Harmonie materieller Lebensprozesse betrachten, erscheint es nicht unplausibel, dahinter das Spiel schöpferischer, sich organisierender Energien zu vermuten. Im Verständnis des Yoga sind diese essentiellen Energien Trägerkräfte – ausführende Instrumente einer ewigen, im Kosmos sich selbst erschaffenden Bewusstseinsmacht – sie wird im Yoga als Shakti bezeichnet. Es sind ihre Pranas – aus ihrem Bewusstsein geformte – sich organisierende, interagierende Energien, die in  Abstimmung ihrer dynamischen Prozesse die Voraussetzungen einer Entwicklung des Lebens in der Materie ermöglichen.

Von der Einheit allen Lebens

In dieser Perspektive ist die Evolution des biologische Leben nichts anderes, als der werdende, wachsende Ausdruck der Göttlichen Shakti. Es sind Ihre unendlichen Potentiale, die sie im kosmischen Spiel Ihrer Energien zur Entfaltung bringt. Es sind Ihre kosmischen Prinzipien des Lebens, die sie zu den Pranas der Natur kristallisiert hat. Pranas vermitteln zwischen den Bewusstseinsmächten der Shakti und dem unbewussten Grund der Materie. Sie sind das Bindeglied zwischen Geist und Materie.

Ein Nachtrag im Licht moderner Wissenschaft:

Betrachtet man diese Perspektive im Licht der Quantenphysik und der Systemtheorie, offenbaren sich Übereinstimmungen mit den Erkenntnissen des Yoga. Die Quantenphysik zeigt, dass auf subatomarer Ebene keine feste Trennung zwischen Materie und Energie besteht; sie spricht von Feldern potenzieller Möglichkeiten, die durch Beobachtung (also Bewusstmachung) oder Interaktion (also Kräftewirkung) in Erscheinung treten. Auch die Systemtheorie beschreibt natürliche Systeme nicht nur als Summe ihrer Teile, sondern als komplexe, sich selbst organisierende Netzwerke, in denen Informationen und Energien fließen und dabei neue Eigenschaften hervorbringen. Diese Erkenntnisse moderner Wissenschaft unterstützen die grundlegenden Erfahrungen des Yoga: dass die Natur in einem dynamischen Zusammenspiel von Kräften wirkt, das Geist und Materie verbindet.

Weitere Artikel der Artikelserie – Grundlagen des Yoga

Teil 1: Einführung in einen ganzheitlichen Yoga

Wenn wir in unserem allgemeinen Verständnis vom Yoga sprechen, denken wir zumeist an Körperübungen, Atemübungen oder Entspannungstechniken...

Teil 2: Hatha Yoga

„Hatha“ bezeichnet das Gleichgewicht der im Menschen wirkenden Lebensenergien. Der Hatha Yogin entwickelt zunächst den Körper und gewinnt durch bestimmte Techniken und Methoden immer vollständigere Kontrolle über diese Energien...

Teil 3: Raja Yoga

Raja Yoga ist der „Yoga des Königs“, der – als Herrscher über die Menschennatur - eigentlich unser Geist sein sollte. In seinem gewöhnlichen Zustand ist unser Geist allerdings ein schwacher und machtloser König...

Teil 4: Asana

Asanas sind still gehaltene Körperpositionen, die einer wachsenden Kontrolle der Lebensenergien dienen. Die Tantras, die Naturwissenschaften des alten Indien, haben die Natur des Menschen auf der Grundlage einer umfassenden Kosmologie erforscht...

Teil 5: Pranayama

Pranayama bedeutet Meisterung der Pranas und bezeichnet zunächst die Atemtechniken des Yoga, die dem Menschen durch Regulation des Atems eine wachsende Kontrolle seiner Lebensenergien ermöglichen...

Yoga Mudra

Yoga Mudra ist in mehrfacher Hinsicht eine Geste, die den Yoga in seiner Gesamtheit repräsentiert. Die Geste ist eine hingebungsvolles Symbol, das im Zustand innerer Konzentration die Einheit und Verbundenheit des Menschen mit seiner Quelle zum Ausdruck bringt: Yoga

Der Kopfstand – Shirshasana

Der Kopfstand wird von vielen Menschen wie ein Symbol für die Übungspraxis des Yoga wahrgenommen. Vielleicht zurecht, denn es gibt wenige Übungen im Hatha Yoga, denen so viele gute, umfassende Eigenschaften zugeschrieben werden.