Yoga Psychologie

Die Geburt des Yoga im Menschen

(Aus Sri Aurobindo, „Die Synthese des Yoga“)

Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt; es ist eine Geburt aus dem gewöhnlichen, dem mentalisierten materiellen Leben des Menschen hinein in ein höheres spirituelles Bewusstsein und in ein größeres göttlicheres Sein. Kein Yoga kann erfolgreich unternommen und fortgeführt werden, wenn nicht ein starkes Erwachen zur Notwendigkeit dieser umfassenderen spirituellen Existenz eintritt. Die Seele, die zu dieser tiefen und weiten Wandlung aufgerufen ist, kann auf verschiedene Weise zum Ausgangspunkt ihres Weges gelangen. Sie mag durch ihre eigene natürliche Entwicklung, die sie unbewusst zum Aufwachen hinleitete, dorthin kommen; sie kann das auch durch den Einfluss einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie erreichen; sie mag sich durch eine langsame Erleuchtung nähern oder sie schwingt sich infolge einer plötzlichen Berührung oder durch eine Erschütterung dorthin empor; sie mag durch den Druck äußerer Umstände oder durch eine innere Notwendigkeit darauf stoßen oder dorthin geführt werden; durch ein einziges Wort, das die Siegel des Denkens zerbricht, oder es kann durch lange Überlegung geschehen, durch das ferne Beispiel eines Menschen, der diesen Pfad gegangen ist, oder durch täglichen Kontakt und Einfluss. Je nach der Natur und den Umständen wird der Ruf kommen.

Die Entscheidung zum Weg

Auf welchem Weg er auch kommen mag, Der Geist und der Wille müssen sich entscheiden, und als Ergebnis davon muss eine vollständige und wirkungsvolle Selbstdarbringung geleistet werden. Die Annahme einer neuen spirituellen Ideen-Kraft und die aufwärts gerichtete Orientierung in unserem Wesen, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält, – das ist der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist, so stark das auch mit dem Interesse des Geistes ergriffen wird, doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. „Denn die Wahrheit des Geistes darf nicht nur gedacht, sondern muss gelebt werden – und sie zu leben erfordert eine geeinte, zielgerichtete Ausrichtung des gesamten Wesens; eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen geteilten Willen oder durch einen kleinen Teil unserer Energie oder durch ein zögerndes Denken bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich Gott ganz weihen und nur Gott allein.

Die Macht des Inneren Entschlusses

Wenn die Umwandlung durch einen überwältigenden Einfluss plötzlich und entscheidend eintritt, gibt es keine wesentliche oder dauernde Schwierigkeit mehr. Dann folgt die Entscheidung dem Gedanken oder fällt mit ihm zusammen, und die Selbst-Darbringung bekräftigt die getroffene Wahl. Der Fuß ist nun bereits auf den Pfad gesetzt, auch wenn man anfänglich noch mit ungewissen Schritten geht, wenn man den Weg vielleicht zuerst nur dunkel sieht und wenn die Erkenntnis des Zieles noch unvollkommen ist. Der geheime Lehrer, der innere Lenker ist nun schon am Werk, wenn er sich vielleicht auch noch nicht offenbart oder noch nicht in der Person seines menschlichen Repräsentanten erscheint. Keine der Schwierigkeiten und Unschlüssigkeiten, die noch folgen mögen, können am Ende etwas gegen die Macht der Erfahrung ausrichten, die den Lauf des Lebens umgelenkt hat. Wenn die Berufung einmal zur Entscheidung führte, bleibt sie fest bestehen. Was geboren wurde, kann durch nichts mehr erstickt werden. Auch wenn die Macht der Umstände es anfänglich verhindert, dass man das Ziel regelmäßig verfolgt oder sich von Anfang an tatsächlich ganz darbringt, hat der Geist doch seine neue Richtung eingeschlagen und beharrt nun mit einer ständig zunehmenden Wirkungskraft auf seinem vordringlichen Anliegen oder kehrt zu ihm zurück. Mit einer unausweichlichen Beharrlichkeit besteht das innere Wesen darauf, und alle Umstände sind letztlich dagegen machtlos. Keine Schwäche in der Natur kann auf die Dauer zum Hindernis werden.

Stufen der Vorbereitung

Der Anfang verläuft jedoch nicht immer auf diese Weise. Oft wird der Sadhaka nur schrittweise geführt. Dann liegt eine lange Zeitspanne zwischen der ersten Hinwendung des Geistes und der völligen Zustimmung der Natur zu dem Ziel, dem es sich zuwendet. Zuerst mag da nur ein lebhaftes intellektuelles Interesse vorherrschen, durch das man mit aller Gewalt zu der Idee und zu einer unvollkommenen Form der Praxis hingezogen wird. Vielleicht handelt es sich auch um ein Bemühen, das nicht von der ganzen Natur begünstigt wird, um eine Entscheidung oder eine Wendung, die durch einen intellektuellen Einfluss auferlegt oder durch die persönliche Zuneigung und Bewunderung für jemand diktiert wird, der sich selbst dem Höchsten geweiht und ergeben hat. In solchen Fällen kann eine lange Vorbereitungszeit notwendig sein, bevor es zur unwiderruflichen Selbst-Darbringung kommt.

Der Rückfall ins frühere Leben

In manchen Fällen mag sie dann gar nicht eintreten. Vielleicht macht man gewisse Fortschritte. Es kann eine mächtige Anstrengung und sogar eine weitgehende Läuterung vorhanden sein, auch viele Erfahrungen anderer Art als die zentralen und höchsten. Aber das Leben wird entweder in Vorbereitung verbracht, oder der Geist wird, sobald er eine gewisse Stufe erreicht hat, nur noch von einer ungenügenden Antriebskraft weitergedrängt und bleibt dann vielleicht zufrieden vor der Grenze der ihm möglichen Anstrengung stecken. Vielleicht sinkt er auch in das frühere niedrigere Leben zurück. In der gewöhnlichen Yoga-Sprache nennt man das „ein Abfallen vom Pfad“. Dieses Abgleiten tritt deshalb ein, weil im eigentlichen Zentrum ein Fehler sitzt. Zwar war der Intellekt interessiert, das Herz angezogen, und der Wille hatte sich voll eingesetzt. Jedoch war nicht die ganze Natur vom Göttlichen zu seinem Gefangenen gemacht worden. Sie hatte sich nur eben in jenes Interesse, jene Hinneigung oder jenes Bemühen gefügt. Es war ein Experiment, vielleicht sogar ein eifrig betriebenes Experiment gewesen. Man hatte sich aber nicht total an ein zwingendes Bedürfnis der Seele oder an ein unaufgebbares Ideal hingegeben.

Auch Scheitern führt zum Sieg

Auch ein solcher unvollkommener Yoga ist gewiss nicht nutzlos vertan. Denn kein Bemühen, über sich hinauszukommen, wird vergebens unternommen. Selbst wenn es im Augenblick misslingt oder nur zu einer vorbereitenden Stufe oder einer vorläufigen Verwirklichung führt, hat es doch über die Zukunft der Seele entschieden. Wollen wir aber die günstige Gelegenheit, die uns dieses Leben bietet, bestens ausnutzen, streben wir danach, den Ruf, den wir empfangen haben, in der angemessenen Weise zu beantworten und das Ziel, das wir flüchtig schauten, wirklich zu erreichen, und bewegen wir uns nicht nur ein wenig in der Richtung auf es hin, dann ist es wesentlich, dass eine völlige Selbstdarbringung geleistet wird. Das Geheimnis des Erfolges im Yoga liegt darin, dass wir ihn nicht nur als eines der Ziele ansehen, die wir im Leben verfolgen sollen, sondern als das Ganze des Lebens.